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Gute Literatur fordert, kann aber auch sehr unterhaltsam sein, sagt Regina Kammerer, Leiterin des Luchterhand Verlages, einem Imprint der Verlagsgruppe Random House. Für die aktuelle Ausgabe des Frankfurt Magazine sprach sie mit Buchmesse-Direktor Juergen Boos über #vorschauenzählen, ihr untrügliches Bauchgefühl und die Angst vorm Scheitern. Dieses Interview finden Sie in der aktuellen Ausgabe von The Frankfurt Magazine

Regina Kammerer - Luchterhand Verlag und Juergen Boos (c) Ulrike Frömel

Regina Kammerer, Leiterin des Luchterhand Literaturverlags, und Juergen Boos

© Ulrike Frömel

JB: Luchterhand hat eine lange und große Verlagsgeschichte. Ich habe zu Hause eine alte Ausgabe von Günter Grass liegen, Katz und Maus. Und jetzt auf der Buchmesse habe ich wieder gesehen, dass sehr viele interessante Titel, auch aus den Gastländern, bei Euch erschienen sind.

RK: Als ich Anfang 2005 die Programmverantwortung übernommen habe, damals noch mit Georg Reuchlein, hatte der Verlag bereits eine lange Tradition – mit guten und natürlich auch mit weniger guten Zeiten.

Das Schöne ist: Neben Günter Grass und Christa Wolf, die nicht mehr bei Luchterhand erscheinen, haben wir noch immer sehr viele Autorinnen und Autoren im Programm wie Kerstin Hensel, Franz Hohler oder Christian Haller, die schon lange vor der Übernahme durch die Verlagsgruppe Random House bei Luchterhand verlegt wurden. Und Ernst Jandl natürlich, ein Urgestein. Der Luchterhand Literaturverlag war und ist eine Institution.

JB: Wie habt Ihr 2005 das Programm entwickelt? Habt Ihr Euch Themen gesetzt?

RK: Es war eine schwierige Zeit damals. Wir standen vor der Aufgabe, zum einen für Stabilität zu sorgen, zum anderen ging es natürlich auch darum, junge, deutsche Stimmen zu finden und ihnen eine verlegerische Heimat zu geben.

Saša Stanišić war einer der ersten neuen Autoren, den ich für Luchterhand gewinnen konnte. Sein Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert wurde dann zu einem großen Erfolg. Das war ein Autor und ein Buch, von dem wir sagten: In diese Richtung soll es gehen. Und mich freut es im Moment ganz besonders zu sehen, was es bedeutet, wenn man den langen Atem hat, wenn man einen Autor begleitet und an ihn glaubt. Sašsas Debut war sehr erfolgreich, die Rechte wurden in 33 Länder verkauft. Er brauchte sieben Jahre für das zweite Buch, mit dem er den Leipziger Buchpreis gewann. Das ist für mich Luchterhand: ein Verlag, der Autoren aufbaut und sie in ihrem Schreiben begleitet.

JB: Ihr seid also ein klassischer Autorenverlag. Wie entdeckt man so jemanden wie Saša Stanišić?

RK: Networking, viel Austausch und ein offenes Ohr. Literaturfestivals spielen eine Rolle, vor allem auch Fellowships, weil man dort Kolleg*innen und andere Autor*innen trifft und schnell hört, ob es jemanden gibt, den man beobachten sollte.

Ich möchte noch einmal auf Deine Frage nach dem Entdecken von Autoren zurückkommen: Das ist das Wunderbare an unserer Branche, es ist eine kleine Welt von sehr interessanten und interessierten Menschen, die in ihrer Leidenschaft für Autorinnen und Autoren und deren Geschichten vereint sind. Internationale Buchliebhaber – das ist eine sehr anregende Gemeinschaft. Es ist ein großes Glück, so arbeiten zu können.

Und so war es auch bei Saša. Bevor er in Klagenfurt gelesen hat (2005), hatten wir schon ein Exzerpt von ihm vorliegen. Ich fand das toll, die Stimme war frisch, sie war anders, und er schrieb von etwas Existenziellem. Martin Mittelmeier, der lange Lektor bei uns war, und ich haben ihn dann getroffen und gleich einen Zwei-Buch-Vertrag geschlossen.

„Man hat mir einen langen Atem gewährt. Dafür bin ich dankbar, aber es zahlt sich auch aus.“

Regina Kammerer Luchterhand Verlag

JB: Das Gespür dafür, Autoren zu entdecken – lernt man das im Lauf der Jahre? Oder ist das mehr das ein Bauchgefühl, das dir sagt, den oder die nehme ich jetzt unter Vertrag?

RK: Ich bin da vielleicht ein wenig altmodisch, denn ich höre sehr auf mein Bauchgefühl. Ich bin immer auf der Suche nach neuen Stimmen, nach dem Originären in der Sprache, das große Autorinnen und Autoren ausmacht. Ich gehe weniger über den Plot. Der ist auch interessant, aber entweder springt mich ein Text an oder nicht.

JB: Bist du auch schon richtig enttäuscht worden?

RK: Ich würde nicht von Enttäuschung sprechen, sondern eher davon, dass ich traurig bin, wenn eine Autorin, ein Autor seinem oder ihrem Weg nicht vertraut. Wenn jemand nicht die Lust oder die Kraft hat, den Weg weiterzugehen.

JB: Oder auch kommerziell nicht funktioniert?

RK: Das ist etwas ganz anderes. Natürlich muss auch ein literarischer Verlag wirtschaftlich erfolgreich arbeiten, um zu überleben. Und selbstverständlich wünscht man sich, dass ein Buch, an das man glaubt, auch erfolgreich ist. Aber ich finde, man kann auch an Bücher und Autoren glauben, die vielleicht erst später erfolgreich werden.

Ich habe großen Respekt vor Autorinnen und Autoren. Wenn man etwas schreibt, öffnet man sich und macht sich verletzlich, auch wenn es nicht autobiographisch ist. Damit muss man behutsam umgehen. Ich verstehe Lektoratsarbeit auch nicht so, dass man eine Autorin, einen Autor zu etwas zu zwingt, das sie oder er nicht will.

JB: Stichwort Literaturkritik – siehst du auch deren Verschwinden? Was passiert da?

RK: Es gibt einfach nicht mehr so viel Raum in den Medien für Literatur. Das bedauere ich genauso wie die Tatsache, dass Literatursendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen oder Rundfunk gewöhnlich erst sehr spät am Abend gesendet werden.
Ich lese in den Zeitungen allerdings nicht nur das Feuilleton. Was mich interessiert, ist die Verbindung zwischen Kultur und Politik, die Verbindung zum Leben unserer Leserinnen und Leser.

In Deutschland führen wir gerne eine staatstragende Debatte über die Frage Was ist Literatur? Ich finde, das muss nicht sein. Gute Literatur fordert, kann aber auch sehr unterhaltsam sein. „Hochkultur“ ist ein sehr deutsches Phänomen. Literatur muss auch Menschen erreichen können, die aus einem anderen kulturellen Umfeld kommen.

JB: In deinem Programm finden sich viele nordische Autoren, denken wir nur an Knausgård. Hast du ein Faible für nordische Autoren? 

RK: Nicht nur – aber ich habe schon sehr früh angefangen, den skandinavischen Bereich zu beobachten. Mit Literatur aus der englischsprachigen Welt beschäftigten sich damals schon sehr viele Kolleginnen und Kollegen, und ich wollte noch etwas entdecken, wollte ein breiteres Verlagsprofil. Ich finde auch, dass die Skandinavier uns von der Erzählhaltung her sehr nahe sind. Es gibt und gab schon immer sehr enge Verbindungen zwischen dem skandinavischen und dem deutschen Sprachraum.

JB: Das heißt, du kennst die skandinavische Buchlandschaft und die Kollegen schon sehr lange?

RK: Ja. Halldór Gudmundsson zum Beispiel kenne ich seit vielen Jahren, von meinen Reisen nach Skandinavien.

JB: Was waren das für Reisen?

RK: Ich habe Verlage besucht. Es gab damals noch nicht viele Agenturen, und Auslandsrechte wurden über die Verlage direkt gehandelt. Jahrelang bin ich regelmäßig nach Dänemark, Norwegen, Schweden gefahren, habe am Fellowship Programm in Island teilgenommen. Da lernt man die ganze Branche kennen. Das fand und finde ich heute noch sehr bereichernd.

Ich habe dann bei btb mit skandinavischen Autoren angefangen, später auch bei Luchterhand. Knausgård, Lena Andersson, in diesem Herbst kommt ein neuer Johannes Anyuru, einer der ganz großen schwedischen Erzähler, der gerade in den USA erschienen ist.

Man muss beim Verlegen neugierig sein, offen, auch für andere Kulturen und verschiedene Altersgruppen. Nehmen wir beispielsweise Sally Rooney und ihren Roman Gespräche mit Freunden. Rooney wird sicher auch von vielen jungen Leserinnen und Lesern gelesen, aber möglicherweise ganz anders gelesen wird als von jemandem, der 40 Jahre Leseerfahrung hinter sich hat.

JB: Du hast Knausgård verlegt, als er noch kein Star war. Wie war deine erste Begegnung mit einem Knausgård-Text?

RK: Ich hatte durch meine Aufenthalte in Skandinavien auch den legendären Lektor und Autor Geir Gulliksen kennengelernt, der im Herbst 2019 die Luchterhand-Anthologie Heimatland mit Kronprinzessin Mette-Marit herausgegeben hat. Er machte mich als erster auf Knausgård aufmerksam. Danach erwähnten auch andere Norweger ihn immer wieder. Sein erstes Buch habe ich damals noch nicht eingekauft. Dann kam Alles hat seine Zeit, ein großartiger Roman, sehr umfangreich, aber ganz anders geschrieben als das autobiografische Projekt, und ich sicherte mir die Buchrechte, weil ich das Gefühl hatte, dass er einmal ein ganz Großer werden könnte.

Ich erinnere mich noch genau an unsere erste Begegnung. Karl-Ove war sehr zurückhaltend, er sagte kaum ein Wort. Nachdem das Buch erschienen war, sollte er nach München kommen und er versprach, nicht mehr so viel zu schweigen. Er versprach auch, dass das nächste Buch dünner werde – und dann kamen plötzlich diese sechs Bände...

JB: Ein Mammutprojekt - und nicht ganz ohne Risiko.

RK: Ich hatte hier im Haus die Freiheit, dieses Projekt zu machen, zu einem Zeitpunkt, als Knausgård in den nordischen Ländern schon ein Held war, aber niemand ahnen konnte, dass er eine solche Weltkarriere machen würde. Ehrlicherweise sind das die Sachen, die einem am Verlegerleben am besten gefallen.

 

„Man muss beim Verlegen neugierig sein, offen, auch für andere Kulturen und verschiedene Altersgruppen.“

Regina Kammerer Luchterhand Verlag

JB: Ein ganz anderes Thema in der deutschen Buchbranche ist derzeit das Verhältnis von veröffentlichten Autorinnen zu Autoren. Stichwort #vorschauenzählen. Viele Verlage veröffentlichen mehr Männer, bei Luchterhand ist das Verhältnis in der neuen Vorschau ausgeglichen: 6:6.

RK: Das ist doch schön. Es ist ehrlich gesagt Zufall, spiegelt aber meine Haltung wider. Ich finde, ein Verlagsprogramm sollte so breit wie möglich sein. Ich würde jedoch niemals auf ein Buch verzichten, weil es ein Mann geschrieben hat. Und ich würde auch nie eine Autorin veröffentlichen, an die ich nicht glaube. Entweder nimmt mich ein Ton gefangen – oder eben nicht. Ich achte darauf, dass wir eine gute Mischung haben, etablierte Autorinnen und Autoren, junge Stimmen, unterschiedliche Temperamente, deutsche Autorinnen und Autoren und Übersetzungen.

JB: Luchterhand ist ein Imprint der Verlagsgruppe Random House. Was bedeutet es für einen erklärten Autorenverlag, Teil eines Konzerns zu sein?

RK: Ich war nie eingeschränkt, konnte und kann alle meine Herzensprojekte verwirklichen. Man hat Georg Reuchlein und mir, als wir mit Luchterhand anfingen, einen langen Atem gewährt - und ich bin froh, dass sich das unter der Leitung von Grusche Juncker fortsetzt. Dafür bin ich dankbar, es zahlt sich aber auch aus.

JB: Wenn du einem ausländischen Lektor erklären solltest, was die deutsche Literatur gerade ausmacht, was würdest du sagen? 

RK: Generell gilt: Wo sich etwas reibt, entsteht Literatur. Ich finde es schwierig, von Trends zu sprechen, dennoch: Es werden in Deutschland vermehrt weltläufige Geschichten erzählt, die sich übertragen lassen, und das macht diese Autorinnen und Autoren auch für das Ausland interessant. Juli Zeh hat für Leere Herzen fantastische Kritiken in den USA bekommen und Ferdinand von Schirach hat eine sehr große Fangemeinde auch außerhalb des deutschsprachigen Raums. Luchterhand-Titel erfahren im Ausland eine große Aufmerksamkeit, was uns natürlich sehr freut.
Um unsere Bücher und Themen auch bei ausländischen Verlagen bekannt zu machen, braucht man Netzwerke. Davon lebt unsere Branche. Und daher sind auch Buchmessen so wichtig, um genau diese Gespräche möglich zu machen.

JB: Gibt es jemanden, dem du noch mehr Lizenzen im Ausland, also weltweite Verbreitung, wünschen würdest?

RK: Ja, die gibt es. Die Büchnerpreisträgerin Terézia Mora. Für mich sind ihre Texte Weltliteratur im besten Sinn.

JB: Regina, vielen Dank für dieses Gespräch.

Regina Kammerer - Luchterhand Verlag

© Ulrike Frömel

Regina Kammerer leitet den Luchterhand Literaturverlag & btb Verlag (Imprints der Verlagsgruppe Random House). Sie studierte Deutsche Literatur, Politik und Sozialwissenschaften in Heidelberg und Munich und ist Absolventin der Deutschen Journalistenschule in München. Sie hat zwei Töchter und lebt in München.

Der Luchterhand Literaturverlag, gegründet 1924, entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer der anerkannten literarischen Adressen im deutschsprachigen Raum. Hier erscheinen renommierte internationale Autoren wie António Lobo Antunes, Karl Ove Knausgård, Leïla Slimani, Elizabeth Strout und Linn Ullman ebenso‎ wie herausragende Stimmen der deutschsprachigen Literatur: Ernst Jandl, Franz Hohler, Terézia Mora, Hanns-Josef Ortheil, Ferdinand von Schirach, Saša Stanišić, Juli Zeh und viele andere mehr.

Die Bücher des btb Verlages bieten literarische Unterhaltung für ein breites Publikum.
Das breitgefächerte Verlagsprogramm umfasst internationale Belletristik, anspruchsvolle Kriminalromane, skandinavische Literatur, Frauenromane, Biographien und Sachbücher zu Geschichte und Politik.

© Alle Fotografien in diesem Beitrag: Ulrike Frömel

Dieses Interview finden Sie in der aktuellen Ausgabe von The Frankfurt Magazine

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